Früher spielten wir oft „Schwarzer Peter“. Auf dem Bild lächelte er als Schornsteinfeger immer so freundlich und winkte aus der Karte heraus. Mir wurde beigebracht, dass Schonsteinfeger Glück bringen. Wieso verliert man also mit dieser Karte auf der Hand? Ein wesentlich besseres Schicksal hatte da meine Lieblingskarte. Sie lächelte ebenso freundlich und wurde von mir heiß und innig geliebt. Noch heute sehe ich das Bild ganz genau vor mir. Eine schöne Frau mit langen blonden Haaren hoch oben über der Zirkusmanege. Sie trägt ein lila Kostüm und hält einen blauen Schirm in der Hand um das Gleichgewicht auf dem Seil besser halten zu können. Aber Angst hat sie nicht. Ohne Absicherung balanciert sie in luftigen Höhen auf den Zehenspitzen – streckt sogar ein Bein todesmutig von sich - und schaut mich aus der Karte heraus so vergnügt an als könne sie niemals fallen. So wollte ich auch werden.
In der 5. Klasse musste ich dann feststellen, dass schon der Schwebebalken mich überforderte. Oh, ich konnte darauf balancieren, meine Kür beenden. Drehung, Hocke, Standwaage. Doch selbst die Lehrerin erstaunte es wie sehr der Balken unter meinen Füßen bebte. Ich zitterte vor Angst. So sehr, dass das gesamte Turngerät niemals ruhte, sondern die unsicheren Bewegungen meiner Beine übernahm und aller Welt, in diesem Falle meiner Klasse, rücksichtslos meine Angst vor Augen führte. Ich war froh als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. In diesem Moment starb mein Traum vom Seiltanz.
Jetzt ist er wieder erwacht. Mit vielen alten Träumen, die ich im Laufe der Jahre zu Grabe getragen habe. Sie sind wieder auferstanden, doch entfernter denn je. Ich möchte so hoch hinaus, aber ich bin so fest im Boden verwurzelt. Keine Höhenflüge, immer Bodenständigkeit. Nie wollen was man nicht erreichen kann, nie auf verlorenem Posten kämpfen, niemals springen. Aber ohne den Absprung kann man auch nicht fliegen. Ich möchte über das Seil tanzen, ohne Netz nur mit einem blauen Schirm in der Hand. Aber ich wage es nicht die Leiter hinaufzuklettern. Meine Beine sind schwer wie Blei, von Resignation und Rationalität zurückgehalten. Ich träume vom fliegen und vom Tanzen, vom Schweben über den Dingen, dem Blicken der anderen entweichen. Ich stehe unten, lege den Kopf in den Nacken, blicke hinauf und frage mich ob ich es jemals wagen werde. Ich habe keine Höhenangst, fürchte auch den Fall nicht. Ich weiß, dass eine Sekunde dort oben jeden noch so schmerzhaften Sturz lohnen würde. Es ist etwas ganz anderes was mich am Boden hält. Nur was?
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